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Brexit: Die Rückkehr der Ideen in die Politik.

2d7c08db-9d87-43ce-921f-513acca86f7e-2060x1236Seit am Donnerstag das Volk des Vereinigten Königreiches per Referendum seinen Austritt aus der EU beschloss, sollte jedem klar sein, dass Europa vor grundlegenden Veränderungen steht.

Die Briten haben eine Entscheidung getroffen, die ökonomisch mutig ist, um es höflich auszudrücken. Sie haben sich für Risiko entschieden. Das ist bemerkenswert, basiert doch die europäische Politik spätestens seit den 1980er Jahren auf dem Versprechen von Wohlstand und Sicherheit. Sie legitimiert sich nicht intellektuell, sondern materiell, und besänftigt fordernde Gruppen mit großzügigen Zuwendungen. Diese Politik vermeidet jeden Konflikt, in dem sie Frieden kauft. Sie scheint an ihr Ende gekommen zu sein.

Den „Leave“-Befürwortern ging es nämlich nicht um Geld, zumindest nicht vorrangig. Es ging ihnen darum, die Herrschaft über ihr Land zurückzubekommen. „Take back control“ ist kein Ruf nach weniger Überweisungen nach Brüssel, es ist der Ruf nach Selbstbestimmung und Unabhängigkeit.

Wie in allen EU-Staaten dienen auch im Vereinigten Königreich mehr als die Hälfte der vom Parlament beschlossenen Gesetze nur noch der Umsetzung von EU-Vorgaben. Wie alle EU-Staaten hat auch das Vereinigte Königreich die Kontrolle über die eigenen Grenzen, die eigenen Gesetze und über die Zusammensetzung der eigenen Bevölkerung verloren. Damit sind die drei Elemente der Eigenstaatlichkeit – die (1) souveräne Staatsgewalt, die in einem (2) Gebiet exklusiv über das dort lebende (3) Volk regiert – nicht mehr in der Hand der nationalen Regierung. Die Briten mussten also entscheiden, ob es ihnen ein ökonomisches Opfer wert ist, wieder die Herrschaft über ihr eigenes Land zu gewinnen. Und das haben sie mehrheitlich bejaht. Für sie hat die Selbstbestimmung keinen Preis, sondern einen Wert, und der ist ihnen ein ökonomisches Risiko wert.

Damit sind immaterielle Werte wie Identität, Unabhängigkeit und Eigenverantwortung auf der politischen Bühne zurück. Und das aus zwei Gründen: Zum einen, weil die bisherigen Wohlstands- und Sicherheitsversprechen nicht mehr erfüllt werden. Die Reallöhne stagnieren, die Aussichten auf Teilhabe am Wohlstand werden geringer und die innere Sicherheit erodiert. Zum anderen, weil die geistigen Grundlagen der Gesellschaft zerborsten sind. Kollektive Identitäten werden nicht nur nicht gepflegt, sondern regelrecht bekämpft. Jede laute Minderheit beansprucht allgemeine Deutungshoheit, während die Mitte zerfällt. Die Mehrheit fühlt sich zunehmend fremd im eigenen Land.

Auf beide Entwicklungen haben die etablierten politischen Akteure keine überzeugenden Antworten. Auf die Dysfunktionalitäten des Euro reagieren Regierungen und Zentralbank mit immer neuen Rettungspaketen, Kreditaufnahmen und Nullzinsen, die nur neue ökonomischen Probleme verursachen, ohne die strukturellen Ursachen der Euro-Krise zu lösen. Die sozialen Fehlentwicklungen werden nicht angegangen, sondern mit einer abstoßenden Geringschätzung der einfachen Leute beantwortet. Die Besorgnis erregende Kriminalitätsentwicklung wird gar nonchalant zu einem Zeichen von „Buntheit“ und Fortschritt erklärt. Wer aber seine politische Legitimität auf Wohlstand und Sicherheit gründet, sollte Lösungen anbieten, wenn beides abhanden zu kommen droht.

Die immateriellen Werte schließlich, die immer mehr europäische Wähler einfordern, weil sie erkennen, dass sie das geistige Fundament unserer Zivilisation sind, verstehen die etablierten Akteure gar nicht mehr. In den fünf Minuten der beiden Schlussplädoyers der letzten Brexit-Debatte auf BBC[i] wurde das deutlich: während die „Remain“-Vertreterin Ruth Davidson ausschließlich auf Nutzen und Kosten verwies, auf Jobs und Wirtschaftsvorteile, sprach der Brexit-Vertreter Boris Johnson von Hoffnung, Selbstbestimmung und Demokratie.

Mens agitat molem – es ist der Geist, der die Masse bewegt. Der Verzicht der etablierten Politiker auf jede geistige Grundlegung ihrer Politik, ihr vermeintlicher Pragmatismus, der letztlich doch nur Bequemlichkeit, Nepotismus und Prinzipienlosigkeit kaschiert, hat ein geistiges Vakuum geschaffen, das niemanden mehr überzeugt und viele abstößt. Darin liegt die Ursache für die Desintegration der Mitte und die Rückbesinnung auf Traditionen: religiöse bei den Immigranten, nationale bei den Briten, kulturelle bei den Osteuropäern.

Diese Rückbesinnung ist absehbar der Trend der kommenden Jahre, und bereits an den Reaktionen der Eurokraten auf den Brexit kann man erkennen, dass die heutigen Politiker damit nicht umgehen können. Sie können nur ihr materielles Programm, aber selbst das scheitert. Boris Johnson, Norbert Hofer oder Victor Orban verfügen über die Themen und Begriffe, um die Sehnsüchte und Erwartungen der Gegenwart aufzunehmen und in die politische Debatte einzubringen. Deshalb ist ihre Zeit erst am Beginnen, während für Martin Schulz, Jean-Claude Juncker oder Sigmar Gabriel die Dämmerung begonnen hat.

[i] http://www.bbc.com/news/uk-politics-eu-referendum-36590539?SThisFB

  1. Ulrich Bohl #

    Herr Krah treffend geschrieben. Junker, Schulz, Gabriel und Merkel bitte. Sie sind
    die Sonnenkönige Europas und sind so geblendet vom Licht in dem sie stehen, dass
    sie die hereinbrechende Dämmerung nicht bemerken. Sie werden vor Verblendung die
    Wand nicht wahrnehmen gegen die sie laufen. Das Tragische ist, wir müssen gegen
    unseren Willen mitlaufen.
    Merkel ist eine der Schlechtesten bei ihr weiß niemand wenn sie losgeht wo sie ankommt,
    sie selbst wahrscheinlich auch nicht. Klare Ziele formulieren kann sie nicht, jedes Ziel ist
    richtig.
    Einige Beispiele : Zu Beginn ihre Amtszeit lautete das Ziel “ Weniger Europa ist mehr
    Europa“ Heute ? Es werden ständig mehr Kompetenzen nach Brüssel abgegeben.
    Einen Mindestlohn wird es mit mir nicht geben . Heute ? Wir haben ihn.
    Persönlich halte ich ihn für richtig.
    Eine Maut wird es mit mir nicht geben. Heute? Wir haben sie.
    Multikulti ist gescheitert. Heute? Der Islam gehört zu Europa.
    Diese Frau ist das Hauptproblem. Die Anderen wirken dagegen
    wie Marionetten.

    8. Juli 2016

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