Die Grundlagen unserer Gesellschaft
Es ist bemerkenswert, wie die SPD wider alle Vernunft in der Großen Koalition zwei Vorhaben durchsetzt, die der eigenen Politik in der „Agenda 2010“ diametral entgegenstehen: den einheitlichen flächendeckenden Mindestlohn und die Rente mit 63. Wie kommt es zu einem solchen Meinungswandel und wieso gelingt es der Union nicht, dagegen in der Öffentlichkeit stärker zu punkten?
Anders als vor 10 Jahren, als Gerhard Schröder die „Agenda 2010“ durchsetzte, geht es Deutschland heute bestens. Nicht mehr die Sorge um den Erhalt des Wirtschaftsstandortes bestimmt das politische Denken unserer Mitbürger. Vielmehr gibt es ein Unbehagen daran, dass unsere Gesellschaft sich immer weiter auseinanderentwickelt.
Der Graben zwischen den „gutbürgerlichen“ Milieus und der euphemistisch „Prekariat“ genannten Unterschicht wächst, es gibt kaum noch persönliche Kontakte, Freundschaften gar, über die Milieugrenzen hinweg. Die Fliehkräfte in der Gesellschaft nehmen zu, während Zusammenhalt und Solidarität abnehmen.
Die Sozialdemokraten mit ihrem marxistischen Hintergrund reduzieren diesen unbestreitbaren Befund auf ein Verteilungsproblem. Die Probleme des Prekariats werden mit einem Mangel an finanziellen Mitteln erklärt und die Lösung in einer Ausweitung der Umverteilung gesehen. Dabei wird darauf verwiesen, dass tatsächlich die Einkommen der oberen Einkommensschichten in den letzten Jahren kräftig gestiegen sind, während sich in den unteren Lohngruppen wenig getan hat. Wieso also, so das linke Kalkül, nicht „oben“ etwas abschöpfen und es „unten“ hinzugeben?
So sympathisch dieser Ansatz auf den ersten Blick erscheint, so falsch ist er. Denn sowohl die Erhöhung des Mindestlohns wie die Ausweitung der Rentenansprüche richten sich an die Menschen, die einer geregelten Arbeit nachgehen. Diejenigen, denen es aber wirklich schlecht geht, haben zumeist keinen festen Arbeitsplatz. Weltweit zeigen alle Studien, dass eine Erhöhung des Mindestlohns an dem Problem der Ungleichheit nichts verändert, zumindest nichts zum Besseren. Der einzige Effekt ist, dass bislang Beschäftigte arbeitslos und damit erst wirklich arm werden. Nichts anderes gilt für die Ausweitung der Rentenansprüche. Auch die betrifft ja regelmäßige Beitragszahler, nicht die wirklich Bedürftigen.
Armut ist eben kein Problem von ungleicher Entlohnung. Die Ursachen sind kultureller Natur. Instabile Familienverhältnisse, Schulabbruch, ungenügende Ausbildung sind die Umstände, die nach jeder Statistik zu Armut führen. Wenn etwa dank der Reformpädagogik und der „Schweizer Methode“ der Rechtschreibunterricht in der Grundschule zur „Rechdschreipkaterstofe“ wird, trifft das vor allem die Kinder aus „bildungsfernen Schichten“, denen keine ambitionierten Eltern und Großeltern – die es ja dank „neuer Familienmodelle“ nicht mehr zwingend gibt – zuhause die Grundregeln der deutschen Schriftsprache erklären. Die Liste ließe sich fortsetzen. Wichtig ist festzuhalten, dass nicht die zunehmenden (und tatsächlich erklärungsbedürftigen) Lohnunterschiede das eigentliche Problem sind, sondern eine zunehmende Erosion grundlegender Prinzipien unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens. Diese Erosion wird von den Linken betrieben und sie trifft die sozial Schwachen.
Warum verweist die Union nun nicht stärker auf diesen Umstand und wehrt damit die ökonomisch schädlichen Angriffe der SPD auf die „Agenda 2010“ ab? Ich befürchte, weil wir im Furor der „Modernisierung“ nicht nur solche Positionen geräumt haben, die tatsächlich nicht mehr in unsere Zeit passten, sondern uns gleich jeden eigenen gesellschaftspolitischen Anspruch abgewöhnt haben. Wenn etwa ein Bundestagsabgeordneter auf der Klausurtagung des Dresdner CDU-Kreisvorstandes allen Ernstes erklärt „Die Wirtschaft ist die Grundlage unserer Gesellschaft“, dann sollten wir uns nicht wundern, dass die linken Rezepte Anklang finden. Die Wirtschaft hat immer noch dienende Funktion (und ist genau deshalb wichtig), aber die Grundlage unserer Gesellschaft ist der Mensch. Und der ist mehr als ein „homo oeconomicus“, und seine Probleme sind mehr als nur ein geringes Einkommen. So viel bürgerliche Überzeugung muss eine „C“-Partei haben, wenn sie sich gegen die SPD durchsetzen will.